Hildegard von Bingen

Ein vollständiges Therapiesystem entstand im hohen Mittelalter aus den Visionen und Inspirationen der Hlg. Hildegard von Bingen. Heilmittel aus allen Naturreichen - Edelsteine, Pflanzen und Tiere - verbinden sich mit heilender Musik, Gebeten und Wandlungsimpulsen für die Lebensgestaltung zu einer einzigartigen Synergie. Der Mensch steht im Mittelpunkt von Erde und Kosmos und ist mit ihnen zusammen auf ein höheres Ziel hingeordnet, das darin besteht, mit der Quelle des Universums, Gott als Schöpfer und Erlöser, eins zu werden. Diesem Ziel zuliebe geht es in Hildegards Heilkunde nicht bloß um die Wiederherstellung der Harmonie im Menschen und mit der Welt, sondern um deren Verklärung und Durchlichtung auf eine höhere Ebene.

Drei Begriffe spielen bei Hildegard eine Schlüsselrolle, um diesem Ziel näherzukommen: Viriditas, Subtilitas und Virtutes.

Mit Viriditas - wörtlich "Grünkraft" - bezeichnet Hildegard die vom Geist Gottes impulsierte Lebenskraft in allen Wesen und Geschöpfen. Die Viriditas läßt nicht nur alle Lebewesen wachsen und gedeihen, sie verleiht ihnen nicht nur ihre spezifischen Eigenschaften, sondern sie strukturiert und komponiert auch die physische Materie, wie sich besonders gut an den Kristallen zeigt. In den Heilmitteln muß diese Viriditas freigelegt und verstärkt werden, indem Hildegard ganz bestimmte Herstellungsmethoden vorschreibt, damit der Mensch nicht nur Gesundheit im herkömmlichen Sinn, sondern auch eine vertiefte Lebensqualität gemäß seinem höheren Daseinsziel gewinnt. Aus höheren Dimensionen kann die Viriditas im Gesang und im Gebet herabkommen, um Mensch und Erde zu verwandeln.

Die Subtilitas bezeichnet die Wesenseigenschaften und heilenden Qualitäten jedes Geschöpfs. Während die Viriditas universell ist, enthält die Subtilitas das Individuelle, die Eigenart der Sache. Jedem Geschöpf kommt eine eigene Subtilitas zu, die Hildegard nicht an der äußeren Signatur erkennt (wie im Mittelalter üblich), sondern durch unmittelbare Wesensschau. So identifiziert sie nicht nur die inneren Eigenschaften der Lebewesen und Materialien, sondern ob und wie sie mit dem höheren Daseinsziel des Menschen übereinstimmen.

Die Virtutes ("Tugenden") schließlich bilden die inneren Kräfte des Menschen, durch deren Entfaltung er sein Leben sinnvoll gestalten und auf sein göttliches Ziel ausrichten kann. Die Virtutes sind hauptsächlich in die Eigeninitiative des Menschen gelegt, finden in der Natur aber durchaus Entsprechungen - etwa in den Bäumen oder den Edelsteinen - und können auch in der Beratung oder gemeinschaftlichen Aktivität geübt werden. Durch die Virtutes wächst der Mensch seelisch, geistig und sozial seiner Bestimmung entgegen, er verwirklicht seine Subtilitas und schöpft aus der höchsten Viriditas.

Wenn die äußeren Heilmittel und die inneren Kräfte ideal aufeinander abgestimmt werden, wird die Hildegard-Heilkunde angemessen praktiziert und die große Vision der Seherin kann zur gelebten Wirklichkeit werden.

Hildegards Heilkunde und das Weltbild, in das sie eingebettet ist, haben kaum Schnittmengen mit der naturwissenschaftlichen Medizin und können von dieser in der Regel nicht verifiziert werden. In Einzelfällen aber - wie bei bestimmten Pflanzen, z.B. Galgant- und Bertramwurzel - ließen sich Hildegards konkrete Angaben tatsächlich medizinisch bestätigen.